Wie können Angehörige hilfreich unterstützen, wenn Kinder und Jugendliche von sexualisierter Gewalt betroffen sind?
Das Bekanntwerden von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen bedeutet für Angehörige eine große emotionale Erschütterung.
Gerade weil diese Zeit sehr herausfordernd ist und sich die Folgen der sexualisierten Gewalttat häufig auch auf die gesamte Familie auswirken, ist das Erhalten fundierter Informationen über Angebote spezialisierter Hilfe- und Unterstützungsangebote sehr wichtig. Es ist wichtig, mögliche Verhaltensweisen, Beschwerden und Reaktionen von Mädchen/ jungen Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, zu kennen und einordnen zu können. Diese Informationen können Sicherheit im Vorgehen geben und tragen dazu bei, das Verhalten der Betroffenen besser einschätzen und dementsprechend auch unterstützender reagieren zu können.
Als Angehörige ist es sinnvoll, diese Zeit als Familie nicht allein durchzustehen zu wollen, sondern das Mädchen/ die Jugendliche darin zu unterstützen und zu motivieren, sich an eine spezialisierte Beratungsstelle zu wenden, damit die Gewalterfahrungen gut verarbeitet werden können.
Spezialisierte Beratung kann Betroffenen nach Gewalterfahrungen dabei helfen, 'sich selbst besser verstehen zu können‘, Ideen zu entwickeln, was sie brauchen, damit es ihnen wieder besser geht, sie darin zu stärken, eigene Grenzen zu setzen und eigene Ressourcen (wieder) zu entdecken. Betroffene lernen auch, mit akuten Symptomen umzugehen und diese zu regulieren. Außerdem kann auf Wunsch ein Kontakt zu einer Psychosozialen Prozessbegleiterinnen oder Rechtsanwält*in hergestellt werden, welche Mädchen/ junge Frauen ggf. zur Aussage bei der Polizei, zur oder auch während der Gerichtsverhandlung begleiten und fundierte Informationen über Möglichkeiten und Ablauf potentieller strafrechtlicher Schritte geben kann.
Das Angebot Spezialisierter Beratungsstellen umfasst auch die Beratung und emotionale Unterstützung von Angehörigen in dieser Krisensituation. Vielen Angehörigen erscheint alles seit Bekanntwerden der Gewalttaten „wie ein böser Traum“ und sie suchen nach Antworten und Gründen für die geschehene sexualisierte Gewalt. Häufig kommt es dabei zu Selbstzweifeln, dem Gefühl in der Vergangenheit etwas versäumt oder falsch gemacht zu haben, Ängsten, etwas falsch zu machen und/ oder einer großen Hilflosigkeit. Angehörige benötigen in dieser Zeit daher auch für sich selbst eine professionelle Unterstützung und hilfreiche Informationen über Trauma, über Strafanzeige etc..
Normalerweise können Menschen in gefährlichen Situationen, mit Flucht und Kampf reagieren, in einer als traumatisch erlebten Situation funktionieren diese Impulse nicht mehr bzw. waren sie nicht möglich. Traumata sind deshalb mit Gefühlen von intensiver Angst, Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit und Kontrollverlust verbunden. Durch die erlebte Gewalt und damit verloren gegangene Sicherheit und fehlende Kontrolle kann das Vertrauen von Mädchen/ jungen Frauen in die eigenen Stärken, die Mitmenschen sowie 'die Welt‘ erheblich erschüttert werden. Immer wiederkehrende Gedanken an das Erlebte sowie körperliche Reaktionen können auch lange nach der Tat bei den Betroffenen auftreten.
Das Ziel im Unterstützungsprozess liegt daher darin, dass das Mädchen/ die junge Frau möglichst schnell wieder ihre Selbstwirksamkeit spürt. Psychische Symptome und psychosoziale Folgen wahrnehmen und akzeptieren zu können, Bedürfnisse wahrnehmen zu können, wieder Vertrauen in die eigenen Kompetenzen zu gewinnen, sich eigener Ressourcen bewusst zu werden - all das stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit des Mädchens/ der jungen Frau.
Eine gute Unterstützung Betroffener durch das Umfeld ist von hoher Relevanz und kann dazu beitragen, dass die erlebte sexualisierte Gewalt ohne oder mit weniger Langzeitfolgen verarbeitet werden kann. Mädchen/ junge Frauen, die Gewalt erlebt haben, benötigen eine liebevolle und wertschätzende Atmosphäre, ihnen zugewandte und fürsorgliche Kontakte, die Sicherheit und Trost sowie Rückhalt und Geborgenheit geben und mit einem achtsamen Blick auf sie verbunden sind. Hierdurch kann Vertrauen wiederaufgebaut werden – als bestes Mittel gegen die Angst.
Sowohl für Mädchen/ junge Frauen als auch für Angehörige stellen Alltag und gewohnte Routinen einen stabilisierenden Faktor dar, der Sicherheit, Orientierung und ein Gefühl von Stabilität und größtmöglicher Normalität vermittelt. Die äußere Sicherheit des Mädchens/ der jungen Frau hat oberste Priorität, um nach und nach wieder innere Sicherheit herstellen zu können. Das bedeutet, dass möglichst jeglicher Kontakt zum Täter verhindert bzw. unterbunden wird. Insbesondere, wenn die sexualisierte Gewalt im nahen Umfeld, wie Familie, Nachbarschaft, Schule, Freizeiteinrichtung stattgefunden hat, muss dafür gesorgt werden, dass die Bedrohungs- und Gefahrensituation für die Betroffene nicht mehr vorhanden ist bzw. als beendet wahrgenommen werden kann!
Es ist wichtig auf alltäglich Dinge wie Ruhe, genügend Schlaf, eine ausgewogene Ernährung mit gemeinsamen Mahlzeiten zu achten sowie Bewegung, frische Luft und gemeinsame Aktivitäten vorzuschlagen. Auch Spaß und Freude dürfen sein. Ein Angebot zum „Darüber- Sprechen“ zu vermitteln ist genauso wichtig wie das Aushalten des „Nicht—Darüber-Sprechens“!
Wichtig ist, dass Angehörige möglichst keine ambivalenten Botschaften vermitteln, wie z.B. „du kannst immer mit mir sprechen aber am liebsten wäre mir, du tust es nicht“. Versprechen Sie immer nur das, was sie selbst auch halten können!
Wenn Sie unsicher sind, was ihr Kind braucht, fragen Sie es!
Als Angehörige*r Betroffene zu begleiten und zu unterstützen bedeutet auch, das „Pendeln“ der Betroffenen zwischen ganz unterschiedlichen Gefühlen und Bedürfnissen zu begleiten.
Es kann Zeiten geben, in denen bei akut Betroffenen ein starkes Bedürfnis nach Nähe und Versorgt-Werden vorherrscht und ebenso Zeiten, in denen ein starkes Autonomiebedürfnis und das Streben nach Normalität größer ist. Dabei sollte ein Verständnis und eine Akzeptanz für ein ggf. verändertes Verhalten mit Stimmungsschwankungen gezeigt werden. Dies kann eine große Herausforderung für Angehörige/Eltern sein, die selbst u.U. zwischen Mitgefühl und Ratlosigkeit schwanken. Wichtig ist hierbei auch zu wissen, dass Erfahrung von sexualisierter Gewalt nicht bedeutet, dass „das ganze Leben des Mädchens“ zerstört ist. Auch für Angehörige ist es wichtig und gut daran zu glauben, dass es Heilung geben kann und sich zu vergegenwärtigen, welche Fähigkeiten und Ressourcen das Mädchen besitzt.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, die Wahrnehmung der Betroffenen und auch das Erlebte generell nicht in Frage zu stellen. Fragen, die versteckte Vorwürfe oder Kritik enthalten (sog. Warum-Fragen) sollten vermieden werden. In den allermeisten Fällen geben sich die Betroffenen schon selbst die Schuld, und durch diese Fragen könnte sich bei ihnen der Eindruck einer angeblichen Mitschuld verstärken. Eine Stigmatisierung oder Reduzierung von Betroffenen auf ihre Erfahrungen als Opfer sexualisierter Gewalt, die Bagatellisierung von Gewalterfahrungen oder auch das Fordern drastischer Strafen für den Täter sollte unbedingt vermieden werden. Viele Angehörige/ Eltern wünschen sich verständlicherweise, dass der Täter so schnell wie möglich für seine Taten bestraft wird. Sie sehen in der Erstattung einer Anzeige eine Möglichkeit, handlungsfähig zu werden und die eigenen Gefühle von Rache zu kanalisieren. Dabei kann es jedoch passieren, dass die Entscheidung voreilig getroffen wird und die Interessen und Wünsche des betroffenen Mädchens/ der betroffenen jungen Frau nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das Mädchen/ die junge Frau benötigt jedoch ein soziales Umfeld, das auf ihrer Seite steht, sie in alle Schritte miteinbezieht und die Sicherheit, dass dabei nichts über ihren Kopf hinweg entschieden wird.
Auch wenn vieles sehr schwierig erscheinen mag, Sie sind als Angehörige mit dem Thema sexualisierte Gewalt nicht allein, sondern können professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und werden bei allen anstehenden Schritten unterstützt.
Aber, um es mit den Worten von Beppo Straßenfeger aus „Momo“ zu sagen: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken…Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“